AviaCert fasst die Ergebnisse des seit 2005 jährlich erscheinenden Safety Review der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) zusammen und blickt auf die aktuellen Herausforderungen im Kontext der europäischen Luftverkehrssicherheit.
Im Annual Safety Review 2022, der Ende August erschien, wurden Daten zu Flugunfällen (accidents) und Zwischenfällen (incidents) aus dem Jahr 2021 berücksichtigt und mit den Zahlen aus den vorangegangenen Jahren verglichen. Demnach bewegt sich der Flugverkehr auch 2021 weiterhin stabil auf einem sicheren Niveau. So wurde 2021 für kommerziell betriebene große Luftfahrzeuge erneut kein schwerer Flugunfall („fatal accident“) in Europa registriert – ein erfreulicher fortlaufender Trend seit 2016. Gleichzeitig konnte jedoch in diesem Bereich ein Anstieg der Gesamtanzahl an Unfällen und schweren Zwischenfällen von 34 im Jahr 2020 auf 60 im Jahr 2021 festgestellt werden – bei einem Mittelwert von 83 für den Zeitraum ab 2011.
Der Terminus „accident“ ist in der Verordnung (EU) 996/2010 genau definiert. Neben der zeitlichen Komponente – das Ereignis muss bei bemannten Luftfahrzeugen in einem Zeitraum stattfinden, innerhalb dessen sich Personen an Bord befinden – spielt auch das Schadensausmaß bei der Kategorisierung eine Rolle. Vereinfacht gesagt wird bei einem Flugunfall entweder
- mindestens eine Person tödlich oder schwer verletzt,
- das Luftfahrzeug so stark beschädigt, dass die Festigkeit der Luftfahrzeugzelle oder die Flugleistungen/-eigenschaften beeinträchtigt sind oder
- das Luftfahrzeug vermisst bzw. es ist nicht zugänglich.
Ein „incident“ erfüllt die Kriterien eines Unfalls nicht, jedoch stellt auch er ein Ereignis dar, bei dem der sichere Betrieb eines Luftfahrzeugs beeinträchtigt wird (oder werden könnte).
Das von einem sicherheitsrelevanten Ereignis ausgehende Risiko lässt sich gemäß ICAO Annex 19 „Safety Management“ durch Auftrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß bestimmen. Laut EASA zeichnet dies jedoch nur ein unvollständiges Bild des Risikos der entsprechenden Ereignisse. So könnten leichte Veränderungen im Ablauf eines Ereignisses aus einem Zwischenfall schnell einen schweren Flugunfall werden lassen. Vor diesem Hintergrund hat die EASA das sog. European Risk Classification Scheme (ERCS) entwickelt, in dem u.a. auch das theoretisch mögliche Schadensausmaß im Falle eines Unfalls berücksichtigt wird. 2021 ging gemäß EASA das größte Sicherheitsrisiko für kommerziell betriebene Airliner von einer möglichen Kollision in der Luft aus. Dabei spielt die unterschrittene Mindestseparation von IFR und VFR-Flügen eine wesentliche Rolle. Runway Excursions wurden ebenfalls mit einem hohen ERCS-Score bewertet, was besonders durch die niedrige Kontrollfähigkeit des Luftfahrzeugs beim Touchdown begründet wird.
Die Identifikation und Bewertung möglicher Risiken sind auch für andere Bereiche der Luftfahrt von großer Bedeutung. So wird beispielsweise bei der Zertifizierung von Flughäfen im Rahmen von Safety Assessments überprüft, ob bei möglichen partiellen Abweichungen von den rechtlich bindenden Vorgaben die Sicherheit beeinträchtigt wird.
Im aktuellen Kontext sieht die EASA besonders Fatigue und Stress als einen sicherheitskritischen Faktor im Luftfahrtbereich, da die nach zwei Pandemiejahren wieder ansteigenden Verkehrszahlen auf von Personal- und Ressourcenabbau geschwächte Airlines und Flughäfen treffen. Die Folgen wurden im Verlauf des Sommers durch lange Wartezeiten an den Sicherheitskontrollen der Flughäfen rund um den Globus auch für die Öffentlichkeit sichtbar.
Mögliche Cyberattacken stellen im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung ebenfalls eine Gefahr für das Luftverkehrssystem dar. Vor diesem Hintergrund arbeitet die EASA an einem regulatorischen Rahmen, welcher die Implementierung eines Information-Security Management Systems (iSMS) als Ergänzung zu bereits existierenden Safety Management Systemen (SMS) in den Organisationen vorsieht.
Trotz der immer wieder neuen Herausforderungen für die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Luftverkehrssicherheit ist die EASA zuversichtlich, dass das europäische Luftverkehrssystem auch in den kommenden Jahren stabil, sicher und verlässlich bleiben wird.
Mit über zwei Jahrzenten Luftfahrterfahrung in einem interdisziplinären Team verfügt AviaCert über die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit dem Thema Sicherheit in der Luftfahrt. Dazu zählen unter anderem das Verfahren mit Abweichungen von technischen Standards, die Bewertung der davon ggf. ausgehenden Risiken und die Erarbeitung von Lösungsansätzen für einen sicheren Flugbetrieb, was eine tägliche Herausforderung für Flughäfen rund um den Globus darstellt.